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Prof. Dr. Klaus Böhme, Berlin

 

Durch die Kritik an der Beschlussfassung des Deutschen Bundestages zu einer Veränderung des Meldegesetzes wird die Aufmerksamkeit auch darauf gelenkt, dass eine große Zahl deutscher Gesetze gar nicht mit der notwendigen Mehrheit auf den Weg gebracht wird. Das dürfte auch für zahlreiche Gesetze im Bereich des Agrarrechtes zutreffen.

Beispiel: Fortentwicklung des Meldewesens

Erinnern wir uns: Das Meldegesetz soll verändert werden. Anpassungen sind tatsächlich notwendig, denn nach der Föderalismusreform ist ein einheitliches Melderecht von Bund und Ländern erforderlich; so manches muss effektiver werden und ein effizien­terer Vollzug ist unter Nutzung moderner Computertechnik möglich. Der Zeitdruck für dieses Gesetzgebungsverfahren war offensichtlich enorm, denn das Gesetz sollte – wie zahlreiche andere auch – vor der Sommerpause 2012 noch vom Tisch des Parlaments herunter. Der Gesetzentwurf lag übrigens schon am 16. 11. 2011 vor.1 Die erste Beratung erfolgte in der 175. Plenarsitzung am 26. 4. 2012. Der Entwurf wurde ohne Aussprache an die Ausschüsse überwiesen (federführend: Innenausschuss).2

Der Schatten, in dem dieses Gesetzgebungsverfahren steht, ist zweifach: Zum einen erforderte die Gesetzgebung zum ESM-Vertrag, zum Fiskalpakt, zu den Finanzhilfen für Spanien und Zypern sowie zur Änderung des Artikels 136 des EU-Vertrages wegen ihrer Bedeutung und der großen öffentlichen Aufmerksamkeit vor der Sommerpause 2012 die volle Konzentration der Abgeordneten. Zum anderen fand am Tag der Beschlussfassung, dem 28. 6. 2012, das Europa­meisterschafts­spiel der Deutschen Mannschaft gegen Italien statt. Auch das „lenkte ab“; entsprechend gering war die Anwesenheit der Abgeordneten zur Beschlussfassung über das „Gesetz zur Fortentwicklung des Melde­wesens (MeldFortG)“.3 Eine Verzögerung der Sitzung war sicher aus gegebenem Anlass nicht erwünscht.

Die zweite und dritte Beratung des Gesetzes wurden in rasantem Tempo abgewickelt und die Reden zu Protokoll genommen. Ohne Aussprache wurde abgestimmt.4 Wie aus der Videoaufzeichnung zu ersehen, haben etwa 15 Abgeordnete dem Gesetz zugestimmt, etwa 10 lehnten es ab.

Großes öffentliches Interesse

Da es beim Meldewesen um eine die Bürger direkt berührende Sache geht und Fragen des Umgangs mit persönlichen Daten in letzter Zeit großes öffentliches Interesse fanden, war zu erwarten, dass die Medien dieses Gesetz genauer unter die Lupe nehmen würden. Dabei kam ans Licht, dass das neue, vom Bundestag verabschiedete Gesetz es ermöglicht, Daten zu verkaufen, ohne zuvor eine Einwilligung der Betroffenen einzuholen.5 Die Empörung war groß und selbst (bei der Abstimmung nicht anwesende) Regierungsmitglieder distanzierten sich. Dem Gesetzgeber wurde in den Medien vorgeworfen, erneut vor der Wirtschaftslobby eingeknickt zu sein. Zur Beruhigung der Öffentlichkeit verwiesen Vertreter der Parteien und der Regierung darauf, dass bei Vorlage im Bundesrat dieses Gesetz in dem kritisierten Punkt noch verändert werde. Auf keinen Fall würden die beanstandeten Passagen rechtskräftig werden.6

Auf eine Besonderheit der Beschlussfassung zum MeldFortG muss noch hingewiesen werden: Beschlussempfehlung und Bericht des zuständigen Innenausschusses datieren vom 27. 6. 20127, lagen den Abgeordneten, aber auch den Ministerien – unter den oben genannten besonderen Bedingungen – erst unmittelbar vor der Beschlussfassung vor, Reaktionen auf die zuletzt eingefügten Änderungen waren somit (nahezu) ausgeschlossen. Das verstärkt natürlich die Vermutung, dass hier etwas durchgebracht werden sollte, was eine „normale“ parlamentarische Diskussion nicht oder nicht so einfach passiert hätte. Zudem zeigt ein Blick in die Tagesordnung der 78. Sitzung des Innenausschusses am 27. 6. 2012, dass die Fortentwicklung des Meldewesens dort nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben kann.

Beschluss und Beschlussfähigkeit des Bundestages

Wenn es möglich ist, dass Gesetze auf die oben geschilderte Weise den Bundestag passieren, dann sollte man die Beschlussfassung des Deutschen Bundestages generell genauer untersuchen.

In seiner Geschäftsordnung legt der Bundestag fest, dass er beschlussfähig ist, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist. Das ist eindeutig!

Vor Beginn der Abstimmung kann die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf Prozent der Abgeordneten angezweifelt werden. Wird die Beschlussfähigkeit auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht, ist in Verbindung mit der Abstimmung die Beschlussfähigkeit durch Zählen der Stimmen festzustellen (Stimmenthaltungen und ungültige Stimmen zählen dabei mit). Ist der Bundestag beschlussunfähig, das heißt weniger als die Hälfte der Abgeordneten ist anwesend, dann hebt der Sitzungspräsident die Sitzung auf.8

Der letzte Fall einer festgestellten Beschlussunfähigkeit des Bundestages liegt noch nicht lange zurück und erregte große Aufmerksamkeit: Die 185. Plenarsitzung am 15. 6. 2012 wurde wegen Beschlussunfähigkeit aufgehoben. Nachdem das Abstimmungsergebnis zu einem Antrag in einer Wettbewerbssache (Presse-Grosso) nicht eindeutig festgestellt werden konnte, wurde von der amtierenden Bundestagspräsidentin zur Feststellung der Stimmverhältnisse (Zählen) nach dem „Hammelsprung“ (GO § 51 (2)) aufgefordert. Das Ergebnis der Abstimmung erbrachte, dass 204 Abgeordnete der Empfehlung des Wirtschaftsausschusses gefolgt waren, den Antrag abzulehnen, sieben Abgeordnete hingegen dem Antrag zustimmten. Damit war der Bundestag offenkundig nicht beschlussfähig.

Der Bundestag hat zurzeit 620 Mitglieder und ist demzufolge nur beschlussfähig, wenn mindestens 311 von ihnen anwesend sind.9 Stillschweigend wird das allerdings häufig ignoriert. Der Bundestag zieht sich auf die Mehrheit der anwesenden Abgeordneten als Kriterium für einen gültigen Beschluss zurück. Er kann das, weil in der Regel die Abgeordneten und Fraktionen (in stillschweigender Übereinstimmung) mitmachen. Dass der Bundestag seine Beschlussfähigkeit überprüfen lässt, kommt selten vor. In den letzten zwanzig Jahren gab es nur vier Fälle.

Selbst wenn die Beschlussunfähigkeit des Bundestages offensichtlich ist – wie bei dem Beispiel der Meldeordnung mit nur 25 anwesenden Abgeordneten (die auf dem Video des Parlamentsfernsehens erkennbar sind) – hat die Versammlungsleitung nur dann einen Anlass, die (ganz offensichtliche) Beschlussunfähigkeit durch Zählen festzustellen, wenn das beantragt wird oder sie selbst Zweifel am Abstimmungsergebnis hat.10 Verwunderlich ist, dass von der Möglichkeit die Beschlussfähigkeit zu prüfen, auch von der Opposition so wenig Gebrauch gemacht wird.

Ein aktuelles Beispiel aus dem Bereich des Agrar(sozial)rechts: Die Abstimmung zum LSV-Neuordnungsgesetz (LSV-NOG)11 erfolgte bei weitem nicht unter so ungünstigen Bedingungen wie die zum Meldewesen. Es fand auch eine umfassende, sehr anregende Aussprache statt, die zuständigen Bundesministerinnen waren anwesend, die vorderen vier, fünf Parlamentsreihen waren gut gefüllt, und in den Ausschüssen fanden zuvor intensive Beratungen statt, über eine Anhörung wurden Meinungen gesammelt und von den Ausschüssen analysiert.

Aber auch die Beschlussfassung zu diesem solide vorbereiteten Gesetz erfolgte nur mit der Mehrheit der anwesenden Parlamentarier und nicht mit der Mehrheit des Parlaments. Wie die Videoaufzeichnung von der Plenarsitzung zeigt, waren nur etwa 100 Parlamentarier anwesend.12 Es werden also nur etwa 20 % der für eine Mehrheit eigentlich notwendigen Stimmen erreicht. Wäre ein Antrag zur Feststellung der Beschlussfähigkeit eingereicht worden oder hätte kein eindeutiges Abstimmungsergebnis vom Präsidium festgestellt werden können, dann wäre die Tagung wegen Beschlussunfähigkeit beendet worden. Beides war nicht der Fall.

Solche Beispiele aus der agrarrechtlichen Gesetzgebung gibt es mehr, ja sie dürften die Mehrheit ausmachen. Eine genauere Analyse ist sehr beschwerlich, weil bei der Dokumentation der Parlamentsvorgänge auf die Anwesenheit und auf die exakten Abstimmungsergebnisse kein Wert gelegt wird. Abhilfe würden die dokumentierten Ergebnisse elektronischer Abstimmungen schaffen.

Problem: Elektronische Abstimmung

Im Deutschen Bundestag wurde bereits 1970 der Versuch gestartet, eine elektronische Abstimmung einzuführen. Von 1973 bis 1977 war im Bonner Plenarsaal eine derartige Anlage installiert, die allerdings nach mehreren Pannen wieder ausgebaut wurde.13 Dass seitdem eine große Zahl von Parlamenten in allen Teilen der Welt – darunter auch das Europäische Parlament – elektronisch zuverlässig abstimmt, hat in Deutschland zu keinem neuen Anlauf geführt. Selbst die Einrichtung eines neuen Bundestages in Berlin wurde nicht für die Einführung eines modernen Abstimmungssystems genutzt.14 Vielleicht verbirgt sich ein Teil der Begründung darin, dass dann die Beschlussfähigkeit bei jeder Abstimmung offenbart  würde. Und das könnte bei der Mehrzahl der Abstimmung zu Fragen über Mehrheiten und Zustimmung und vor allem zur häufig spärlichen Anwesenheit der Abgeordneten führen.

Zusammenfassung

Ein großer Anteil der im Bundestag beschlossenen Gesetze wird nur mit einer unzureichenden Mehrheit beschlossen. Die Mehrheit der anwesenden Mitglieder des Bundestages, die in der Regel für die Verabschiedung der Gesetze reicht, umfasst häufig weniger als 10 %, oft auch weniger als 5 % der Mitglieder. Formal sind diese Beschlüsse gültig, es sind aber „Beschlüsse zweiter Klasse“. Für einen „Gesetzesbeschluss erster Klasse“ sind bei derzeit 620 Abgeordneten die Stimmen von 311 Abgeordneten erforderlich. Das wird aber in der Regel nur bei politisch sehr bedeutsamen Beschlüssen erreicht. Hier geht es dann um namentliche Abstimmung und „Hammelsprung“. Für die Masse der Gesetze gibt man sich mit der Mehrheit der anwesenden Abgeordneten zufrieden, auch wenn diese oft beschämend niedrig ist.15 Auch die Einführung von „Kernzeit-Debatten“ für wichtige Themen mit der Parlamentsreform 1995, bei denen wenigstens 25 % der Abgeordneten anwesend sein sollen, kann das hier angesprochene Problem nicht lösen.16

Von der Möglichkeit, die Beschlussfähigkeit zu überprüfen, wird – in stiller Übereinstimmung der Abgeordneten und ihrer Fraktionen – kaum Gebrauch gemacht.17 Zudem werden im Deutschen Bundestag die Beschlussfähigkeit und die Zahl der Stimmen zu zahlreichen Gesetzesbeschlüssen nicht dokumentiert. Durch die Öffentlichkeit der Plenarsitzungen und das Parlamentsfernsehen ist das Dilemma der häufig geringen Anwesenheit von Abgeordneten vielen Bürgern bekannt, was keineswegs das Vertrauen in Politik und Gesetzgebung fördert.

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Quellen: 

  1. Deutscher Bundestag, Drs. 17/7746.
  2. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 17/175, TOP 22.
  3. Auf der Video-Aufnahme des Parlamentsfernsehens sind nur 25 anwesende Abgeordnete zu sehen;
    Parlamentsvideo: 1771400_h264_720_400_2000kb_baseline_de_2192 +-).­
  4. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 17/187, TOP 21.
  5. Das betrifft vor allem die vom Innenausschuss eingebrachte Änderung zu § 44 (Melderegisterauskunft) des Gesetzentwurfes. Siehe FN 7.
  6. Ausführlich in: P. Schmidt, der Staat als Datenhändler? Gesetze aktuell, 7/2012 (Sonder-Newsletter, www.bundesanzeiger-verlag.de).
  7. Deutscher Bundestag, Drs. 17/10158.
  8. Deutscher Bundestag, Geschäftsordnung §§ 20, 45, 51, 52.
  9. Dieses und weitere Beispiele der Feststellung einer Beschlussunfähigkeit werden vom Bundestag erläutert in: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/39453344_kw24_aufhebung_sitzung1/index.html.
  10. Vgl: www.bundestag.de/dokumente/rechtsgrundlagen/go_erl/gescho08.html.
  11. Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 17/158, TOP 3 (Gesetz zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung).
  12. Siehe Video 1549107_h264_720_400_2000kb_de_2192.mp4. Die Videos des Parlamentsfernsehens sind allerdings nur bedingt zur Feststellung der Anwesenheit geeignet. Der Bundestag selbst weist darauf hin, dass vom Standort des Parlamentspräsidenten besser festzustellen ist, ob das Parlament beschlussfähig ist. Mit dem Blick aus den Fernsehkameras habe man einen „Knick in der Optik“ (siehe FN 9). Bleibt die Frage, warum das Parlamentsfernsehen den Blick vom Standort des Präsidenten (oder von einem erhöhten Standort mit Blick auf alle Plätze) nicht anbietet. Soll es eine faktenbasierte Auswertung der Anwesenheit bei Abstimmungen nicht geben?
  13. Siehe: J. Riecker, Auf Odysseus’ Spuren, blickpunkt bundestag 4/2008.
  14. Nebenbemerkung: Selbst bei der Feststellung der Tore im Fußball wird es künftig eine elektronische Unterstützung des Schiedsrichters geben.
  15. Das Problem der Anwesenheit bei Abstimmungen im Bundestag hat schon seinen Platz auf den Satire-Seiten der politischen Magazine gefunden. Siehe nur: stern 30/2012 v. 19. 7., S.?11. Im gleichen Heft des stern wird auf S. 28 eine Umfrage ausgewertet, in der die Bürger den Abgeordneten des Bundestages ein erschreckend negatives Zeugnis ausstellen. Es heißt u.?a.: „Verärgert sind die Bürger …, wenn im Hohen Haus viele Reihen leer sind. Quer durch alle Be­völke­rungs- und Wählergruppen wird mehr Präsenz im ­ Parlament verlangt“.
  16. Erklärung unter: www.bundestag.de/service/glossar/K/kernzeit.html
  17. Das ist aus organisatorischen Gründen verständlich: Der angespannte Zeitplan der Plenartagungen mit einer Vielzahl von Tagesordnungspunkten würde durchein­andergeraten und die Gesetzgebung sich verzögern. Ein Tagungsabbruch führt zu einem „Rattenschwanz“ von Auswirkungen. Aber auch die persönliche Planung der Abgeordneten würde beeinträchtigt und ihre Verärgerung wäre sicher groß.

                        (Alle Recherchen im Internetangebot des Deutschen Bundestages wurden vom 16. bis 23. 7. 2012 vorgenommen.)