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RA Robert Neixler, Berlin

Anmerkungen zu den Urteilen des Kammergerichts Berlin –
22 U 179 und 202/09 vom 26. 8. 2010 sowie zum Urteil des EuGH – C-239/09 vom 16. 12. 2010

Der Geschäftsführer der BVVG Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH Dr. Müller hat unlängst in NL-BzAR 2010 (S. 182 ff.) eine zusammenfassende Beschreibung des begünstigten Pächtererwerbs landwirtschaftlicher BVVG-Flächen gegeben. Er berichtet dort über 39 Kaufpreisrückzahlungsklagen im Kontext des begünstigten Flächenerwerbs. Unterdessen dürften nahezu ca. 50 Verfahren bei unterschiedlichen Kammern des Landgerichts Berlin rechtshängig bzw. rechtshängig gewesen sein. Die Kläger begehren – gestützt auf eine Kaufpreisanpassungsklausel im notariellen Kauf- und Übereignungsvertrag mit der BVVG – Teilkaufpreisrückzahlung, weil aus ihrer Sicht die BVVG den Verkehrswert des jeweiligen Kaufgegenstandes  im Widerspruch zu § 5 Abs. 1 der Flächenerwerbsverordnung unzutreffend hoch ermittelt habe. Den Klagen liegen zwei unterschiedliche Prozessstrategien zugrunde:

  • Die eine legt der eigenen Verkehrswertermittlung strikt die im Bundesanzeiger veröffentlichen Regionalen Wertansätze zugrunde und leitet hieraus die Höhe der Klageforderung ab.
  • Andere Klagen lösen sich von den – teilweise veralteten und überholten – Regionalen Wertansätzen und beziffern die Klageforderung auf der Grundlage eigener Überlegungen zum Verkehrswert. Die letztgenannten zielen prozessual auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Ermittlung des Verkehrswertes durch das Gericht ab.

Da es für gegen die BVVG gerichtete Klagen beim Landgericht Berlin keine Buchstabenzuständigkeit gibt, sondern sie nach Eingangs- bzw. Rotationsprinzip an die einzelnen Kammern verteilt werden, hat sich ein bunter Strauß erstinstanzlicher Entscheidungen entwickelt (Klageabweisungen, Klagestattgaben mit und ohne Einholung eines Sachverständigengutachtens). Eine Handelskammer des Landgerichts Berlin legte die Sache gar dem Europäischen Gerichtshof  (EuGH) vor, weil sie wissen wollte, ob Art. 87 EG-Vertrag der Altfassung von § 5 Abs. 1 der Flächenerwerbsverordnung, die eine Verkehrswertermittlung lediglich anhand der Regionalen Wertansätze oder anhand eines Gutachtens eines zuständigen Gutachterausschusses vorsah, entgegenstehe (vgl. NL-BzAR 2010, S. 251).

Der EuGH hat dieses Vorabentscheidungsersuchen durch Urteil vom 16. 12. 2010 (C-239/09 = NL-BzAR 2011, S. 33 ff.) beantwortet. Danach ist Art. 87 EG dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die für die Ermittlung des Wertes land- und forstwirtschaftlich genutzter Flächen, die von der öffentlichen Hand im Rahmen eines Privatisierungsprogramms veräußert werden, Berechnungsmethoden wie die in § 5 Abs. 1 der Flächenerwerbsverordnung vom 20. 12. 1995 festgelegten vorsieht, sofern diese Methoden einer Aktualisierung der Preise in Fällen eines starken Preisanstieges vorsehen, sodass der vom Käufer tatsächlich gezahlte Preis sich dem Marktwert dieser Grundstücke möglichst weit annähert. In den Entscheidungsgründen führt der EuGH u. a. aus, dass die Berechnung des Marktwertes von durch die öffentliche Hand veräußerten Flächen zu einem möglichst nahe beim Marktwert liegenden Preis führen müsse, wobei eine Toleranz­marge zulässig sei. Unter dieser Prämisse sei es ungeachtet des Gebotes, nationales Rechts unionsrechtskonform auszulegen, Aufgabe der nationalen Gerichte, in bei ihnen anhängigen Rechtssachen zu klären, wie das jeweilige nationale Recht auszulegen sei.

Die Frage, ob die Verkehrspraxis der BVVG im begünstigten Flächenerwerb gegen § 5 Abs. 1 der Flächenerwerbsverordnung verstößt, ist danach von deutschen Gerichten zu beantworten. Die Schützenhilfe, die sich die BVVG für ihre Verkaufspraxis vom EuGH erhofft hatte, ist ausgeblieben. Lediglich die Kläger, die ihre Klageforderung allein aus den Regionalen Wertansätzen abgeleitet haben, werden sich weiterhin entgegenhalten lassen müssen, dass diese keine „Methoden einer Aktualisierung der Preise in Fällen eines starken Preisanstieges“ vorsehen. Auf Fälle, in denen eine Verkehrswertermittlung durch einen öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen erfolgt ist, dürfte das Urteil des EuGH keinen Einfluss haben.

Divergierende erstinstanzliche Urteile in Fällen, in denen sich die Gerichte erstmalig mit neuen, komplizierten Rechtsfragen zu beschäftigen haben, sind kaum zu vermeiden. Zur Herbeiführung von Rechtssicherheit bedarf es dann obergerichtlicher Entscheidungen. Hier könnten die beiden Urteile des Kammergerichts einen Meilenstein darstellen. Ihre Bedeutung geht über den begünstigten Flächenerwerb hinaus, denn die Frage nach der „richtigen“ Ermittlung des Verkehrswertes landwirtschaftlicher Nutzflächen stellt sich auch beim Verkehrswertkauf im Pächter-Direkterwerb nach Maßgabe der Bund-Länder-Vereinbarung vom Februar 2010. Die Urteile ermöglichen überdies eine vorsichtige Zwischenbilanz der Klageverfahren aus anwaltlicher Sicht.

In beiden vom Kammergericht entschiedenen Fällen hatte das Landgericht Berlin in erster Instanz Sachverständigengutachten zum Verkehrswert eingeholt und auf der Grundlage dieser Gutachten den Klagen überwiegend stattgegeben. Die hiergegen gerichteten Berufungen der BVVG hat das Kammergericht zurückgewiesen. Eine Revision zum Bundesgerichtshof hat es in beiden Fällen nicht zugelassen. Dem Vernehmen nach hat die BVVG in einem Falle eine Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof erhoben, die darauf abzielt, dass der BGH ihre Revision zulassen möge. Im anderen Fall ist die hierfür erforderliche Wertgrenze nicht erreicht. Dieses Urteil ist  rechtskräftig.

Die Urteilsbegründungen sind deshalb von besonderem Interesse, weil sie nicht nur einzelfallbezogene Ausführungen zum jeweiligen Sachverständigengutachten enthalten, sondern sich ausführlich mit den rechtlichen Argumenten auseinandersetzen, mit denen sich die BVVG in allen Klageverfahren verteidigt hat und bis heute verteidigt. Sie vertritt unter Berufung auf die sog. Grundstücksmitteilung der Europäischen Kommission vom 10. 7. 1997 die Auffassung, zur Vermeidung einer EU-rechtswidrigen staatlichen Beihilfe sei es geboten, der Beurteilung von Grundstücksverkäufen der öffentlichen Hand – darunter auch denen der BVVG – einen eigenständigen durch EU-Recht in Abweichung vom deutschen Recht definierten Verkehrswertbegriff zugrunde zu legen. Für diese These hat sich die BVVG juristischer (Koenig, NL-BzAR 2008, S. 403) bzw. juristisch ambitionierter (Köhne, Agra-Europe vom 31. 5. 2010 und NL-BzAR 2010, S. 436) Unterstützung versichert. In Sachverständigenkreisen sowie beim Hauptverband der landwirtschaftlichen Buchstellen und Sachverständigen (HLBS) haben diese Überlegungen Irritation bzw. Ablehnung hervorgerufen (vgl. Karg/Uherek/Spinda, NL-BzAR 2010, S. 387 sowie Hinweise des Fachausschusses des Sachverständigenwesens im HLBS, a.a.O., S. 403). Viele Sachverständige fürchten zu Recht um den Bestand überlieferter und allgemein anerkannter deutscher Bewertungsstandards (Vergleichswertverfahren gem. § 194 BauGB i.V.m. der Wertermittlungsverordnung).

Beim 22. Senat des Kammergerichts haben die Überlegungen der BVVG und die sie unterstützenden Literaturstimmen keinen Anklang gefunden. Die wesentlichen Gründe der beiden Urteile vom 26. August 2010 kann man kurz folgendermaßen zusammenfassen: Bei Verkehrswertermittlungen im sog. begünstigten Flächenerwerb hat der Gutachter den Verkehrswert i.S.v. § 5 FlErwV nach Maßgabe von § 194 BauGB i.V.m. der Wertermittlungsverordnung zu bestimmen. Europäisches Gemeinschaftsrecht gebietet es nicht, der Wertermittlung ausschließlich eine bestimmte Vermarktungsform (z.B. Ausschreibungen der BVVG) zugrunde zu legen. Vielmehr sind bei der Wertermittlung alle im gewöhnlichen Geschäftsverkehr zustande kommenden Kaufpreise einschließlich der Kaufpreissammlungen der Gutachterausschüsse zu berücksichtigen.

Die BVVG verteidigt sich in den Klageverfahren ferner mit dem Hinweis, jede Verkehrswertermittlung, die niedriger ausfalle als ihre eigene, führe nicht nur zu einer unzulässigen Beihilfe, sondern könne die Nichtigkeit des jeweiligen Kauf- und Übereignungsvertrages (einschließlich der Kaufpreisanpassungsklausel) wegen  Gesetzesverstosses (§ 134 BGB) nach sich ziehen. Dies sieht das Kammergericht zu recht anders (22 U 202/09 Ziff. 4.?e) der Urteilsgründe). Zur Begründung verweist es u.a. auf die alleinige Maßgeblichkeit des (abgeschlossenen) Verfahrens der EU-Kommission. Hiermit gemeint ist das Notifizierungsverfahren der Europäischen Union Nr. N 506/99 betreffend das deutsche Flächenerwerbsprogramm. Aufgrund dieses Verfahrens kommt eine Vertragsnichtigkeit wegen Verstoßes gegen das sog. Durchführungsverbot des Art. 88 Abs. 3 Satz 3 EG-Vertrag i.V.m. § 134 BGB  nicht in Betracht, denn das Flächenerwerbsprogramm und damit auch  § 5 Abs. 1 der FlErwV ist durch dieses Verfahren bereits notifiziert. Bei näherem Hinsehen dürfte es der BVVG bei der von ihr beschworenen Gefahr der Vertragsnichtigkeit auch nicht um eine angeblich fehlende Notifizierung gehen, sondern um die These, dass eine grundsätzlich notifizierte Beihilferegelung durch eine – wie die BVVG meint – unzutreffende Verkehrswertermittlung mittels Sachverständigengutachtens falsch angewendet werde und so zu einer das notifizierte Maß überschreitenden und damit unzulässigen Beihilfe führe. Selbst wenn dies in Einzelfällen richtig sein sollte, hätte es nicht die Nichtigkeit der zwischen der BVVG und dem jeweiligen Käufer geschlossenen Kauf- u. Übereignungsvertrag zur Folge. Art. 87 EG-Vertrag, der von den inhaltlichen Vorgaben handelt, unter denen eine Beihilfe zulässig bzw. unzulässig ist, stellt selbst kein Verbotsgesetz i.?S.?v. § 134 BGB dar. Er untersagt den Mitgliedstaaten zwar Beihilfen, die seinen Anforderungen nicht entsprechen, wirkt in den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten jedoch erst durch eine Kommissionsentscheidung über die Frage, ob eine einzelne Beihilfe gegen Art. 87 EG-Vertrag verstößt oder nicht (BGH NJW-RR 2007, S. 1693, 1695 unter Verweis auf Rechtsprechung des EuGH). Erst durch eine solche Kommissionsentscheidung, die es in den hier interessierenden Fällen nicht gibt, würde Art. 87 EG-Vertrag zu einem gesetzlichen Verbot i.S.v. § 134 BGB führen. Selbst in diesem Falle würde das Verbotsgesetz aber auf Verträge, die zu einem Zeitpunkt geschlossen worden sind, als es noch nicht galt, nicht zurückwirken (BGH EuZW 2003, S. 444, 445). Diese blieben vielmehr wirksam (vgl. Schmidt-Räntsch, NJW 2005, S. 106, 107). Kein Käufer muss also befürchten, dass sich sein Kauf­vertrag im Zuge gerichtlicher Auseinandersetzungen mit der BVVG als nichtig herausstellen könnte.

Nach allem gilt: Vorbehaltlich einer etwaigen Zulassung der Revision und einer gegen­teiligen Entscheidung des Bundesgerichtshofs schaffen die Urteile des Kammergerichts mehr Rechtssicherheit in der bedeutsamen Frage, wie der Verkehrswert von landwirtschaftlichen Grundstücken bei Flächenverkäufen der BVVG (begünstigter Flächenerwerb und Pächter-Direktkauf) zu bestimmen ist. Dies werden nicht nur die Käufer, sondern auch viele der mit der Bewertung landwirtschaftlicher Grund­stücke befassten Sachverständigen zu schätzen wissen.